Kindeswohl und Kindeswille

Und wieder einmal stolpern wir über einen Begriff, der in aller Munde, sogar in Gesetzestexten auftaucht, aber nirgends allgemeingültig definiert ist. Viele kluge Menschen unterschiedlicher Professionen haben sich bereits an einer Definition versucht. Der Psychologe Uwe Jopt, ein bekannter Gutachter in Familiensachen, sagte einmal dazu, dass „im Gerichtsalltag die Berufung auf das Kindeswohl-Konzept durch einen geradezu inflationären Missbrauch längst zur inhaltsleeren Worthülse verkommen ist.“ Kindeswohl ist kein empirischer Begriff, der beobachtbare Fakten benennt, sondern es ist vielmehr ein hypothetisches Konstrukt, welches durch die gegebenen Umstände auszulegen ist. Da Lebensumstände jedoch von Fall zu Fall unterschiedlich sind, muss der Definition des Kindeswohls Raum bleiben, um die variierenden und divergierenden Umstände einbeziehen zu können.

Kindeswohl als unbestimmter Rechtsbegriff

Oder noch einmal anders ausgedrückt: Der Begriff Kindeswohl ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Auslegung keinen Anspruch auf Wahrheit per Definition beanspruchen kann. Es handelt sich in der Auslegung um ein interessengeleitetes Konstrukt, welches keine Wirklichkeit erster Ordnung darstellt, die sich scharf definieren ließe. (vgl. Paul Watzlawick in „Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus“, Piper, 1985)
Eine Wirklichkeit erster Ordnung stellt zum Beispiel ein Stuhl dar. Der Stuhl ist unmittelbar sinnlich wahrnehmbar, man kann ihn sehen und auch fühlen. Im Allgemeinen wird es wenig Streit darüber geben, ob der Stuhl existent oder nicht. Für den Begriff Stuhl gibt es wahrscheinlich eine hohe Übereinstimmung verschiedener Menschen darüber, was denn ein solcher sei, so z.B.:

Ein Stuhl ist eine Sitzgelegenheit mit vier Beinen und einer Rückenlehne, die in der Regel nebeneinander nur Platz für eine Person bietet.

Mit dieser Definition wird klar, dass eine Sitzgelegenheit ohne Rückenlehne kein Stuhl ist, sondern nach allgemeiner Übereinkunft ein Hocker. Eine Parkbank ist auch kein Stuhl, sie hat zwar unter Umständen vier Beine und eine Rückenlehne, sie bietet aber nebeneinander Platz für mehr als eine Person. Ein Drehschemel ist auch kein Stuhl, er ist zwar eine Sitzgelegenheit, aber er hat keine Lehne und auch nicht vier Beine. Eine Sitzgelegenheit mit drei Beinen, so z.B. ein ehemaliger Stuhl, bei dem ein Bein verloren gegangen ist, ist auch kein Stuhl mehr, da ihm das vierte Bein fehlt.

Wie man sieht bietet schon ein simpler sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand wie ein Stuhl Gelegenheit zu allerlei Erörterungen. Um wie viel Mal mehr muss das für das Kindeswohl gelten, das noch nie jemand gesehen, gehört, geschmeckt, gerochen oder gefühlt hat.

Beispielhaft möchte ich folgend einige Definitionen zitieren, die mir nahe stehen und auf deren Basis ich den mit Kindeswohl (u.U. auch in der Mediation) verbundenen Begriff der Kindeswohlgefährdung verstehe:

„Kindeswohl bedeutet das Recht des Kindes auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Bei der Kindeswohlprüfung sind dabei die Persönlichkeit und die erzieherische Eignung der Eltern, ihre Bereitschaft Verantwortung für das Kind zu tragen und die Möglichkeiten der Unterbringung und Betreuung zu berücksichtigen, wozu als wesentliche Faktoren die emotionalen Bindungen des Kindes zu den Eltern und anderen Personen treten.“ (OLG Köln vom 18.06.1999 – 25 UF 236/98)

Das Rechtsgut des Kindeswohls bezeichnet das Wohlergehen und die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Kriterien sind das Förderungs-, Bindungs- und das Kontinuitätsprinzip. Das Kindes-wohl ist gefährdet, wenn ohne staatlichen Eingriff mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schwerwiegende Schädigung des Kindes zu erwarten ist. Eine Schädigung ist zu bejahen, wenn der Kindesentwicklung erhebliche körperliche, seelische oder geistige Nachteile drohen. (http://www.cornelsen.de)

Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen. Gleiches gilt für den Umgang mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, wenn ihre Aufrechterhaltung für seine Entwicklung förderlich ist. (§ 1626, 3 BGB)

Nun werden Sie sagen: na bitte, da haben wir das Kindeswohl doch im Gesetz! Ich sage, hier geht es nur um Regelungen, die den Umgang betreffen, nicht aber um eine Definition des Begriffes.
Eine Definition habe ich einmal in einer Zeitschrift gelesen, mir aber leider nicht die Quelle notiert. Ich möchte sie Ihnen trotzdem nicht vorenthalten:

Kindeswohl ist die Summe aller für die Förderung der aktuellen und der langfristig fortlaufenden Entwicklung und für die Individuation des Kindes oder Jugendlichen wünschenswerten und relevanten Parameter. Die Vorstellung vom Kindeswohl ist historisch geprägt und interessengeleitet konstruiert. Es berücksichtigt die Interessen des Kindes und seiner wichtigsten Bezugspersonen, sowie die gesellschaftlichen Erwartungen und Normvorstellungen.

Kindeswohl als interessengeleitete Konstruktion

Mir gefällt diese letzte Definition besonders gut, da sie den Begriff konstruiert enthält und damit den Tatsachen am nächsten kommt. Tatsächlich kann jeder seine Definition dessen, was er unter Kindeswohl versteht in die Diskussion einbringen. Was denn das Kindeswohl im konkreten Fall ist, und wann es gefährdet erscheint, wird von den Beteiligten (Vater, Mutter, Familienrichter, Gutachter, Verfahrensbeistand, Sozialarbeiter, Jugendamt) konstruiert und im Diskurs verhandelt. Die Anhänger des Desorganisationsmodells werden das Ruheargument (das Kind soll endlich zur Ruhe kommen, dazu ist gegebenenfalls einer der Elternteile auszugrenzen) als Kindeswohlkonstrukt benutzen. Die Anhänger des Reorganisationsmodells (die bisherige Kernfamilie transformiert zur Trennungsfamilie in der das Kind mit beiden Elternteilen förderliche Beziehungen unterhält s.o.) werden den möglichst ungestörten Kontakt des Kindes zu beiden Elternteilen als Kindeswohl definieren. Die vorläufig endgültige Definition gibt der Familienrichter, dem staatlicherseits die abschließende Deutungshoheit eingeräumt ist. Für ein offizielles Infrage- stellen muss dann schon dass Oberlandesgericht oder ein anderes übergeordnetes Gericht angerufen werden.

Bei der Diskussion außen vor und gern vergessen sind in der Regel die Großeltern aus der ursprünglichen Kernfamilie. Der ermöglichte Kontakt zu ihnen sollte ebenso bei der Betrachtung des Kindeswohls Eingang finden, wenigstens dann, wenn enge Bindungsverhältnisse bestanden haben.

Beide Ansätze müssen jeweils nicht falsch sein. Da es sich bei dem Begriff um eine Konstruktion handelt, stellt sich auch nicht die Frage nach richtig oder falsch, sondern nach tragfähig oder nicht tragfähig. Die Tragfähigkeit wird am ehesten deutlich in Verbindung mit dem bereits erwähnten Begriff der Kindeswohlgefährdung, auf die ich nun auch noch kurz eingehen möchte.

Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. (§ 1666, 1 BGB)

Ist die Befriedigung folgender Grundbedürfnisse eines Kindes nicht gegeben oder gefährdet, kann nach dem Handbuch des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) von Kindeswohlgefährdung gesprochen werden:

  • die Beachtung der grundlegenden physiologischen Bedürfnisse, wie die regelmäßige, ausreichende und ausgewogene Ernährung, Körperpflege sowie ein angemessener Wach- und Ruhe-Rhythmus;
  • der Schutz des Kindes vor schädlichen äußeren Einflüssen (z.B. Witterung), Gefahren (z.B. Straßenverkehr) und Krankheiten, auch schon während der Schwangerschaft;
  • das Unterlassen von Gewalt und anderen physisch und psychisch grenzverletzenden Verhaltensweisen bzw. der Schutz davor.

Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB als Übersicht

Kindeswohl und Kindeswille

Kindeswille

Dettenborn nennt vier Merkmale, die als Mindestanforderungen vorliegen sollten, um von einem ‚kindlichen Willen‘ ausgehen zu können:

  • Zielorientierung: Es dominiert nicht mehr der stimmungsabhängige Leidensdruck bzw. ungerichtete Veränderungstendenzen, sondern eine handlungsleitende Ausrichtung auf erstrebte Zustände hin. Neben dieser Zielintention gibt es auch Vorstellungen darüber, wie dies erreicht werden kann (Mittelintention) und die Bereitschaft, sich entsprechend zu verhalten.
  • Intensität meint die Nachdrücklichkeit und Entschiedenheit, mit der Ziele angestrebt werden, was vor allem am Beharrungsvermögen bei Hindernissen und Widerständen erkennbar ist. Sie nimmt mit der subjektiven Bedeutsamkeit der zugrundeliegenden Bestrebungen und Attraktivität der Zielzustände zu.
  • Stabilität ist dann gegeben, wenn Willenstendenzen über einen an-gemessenen Zeitraum gegenüber verschiedenen Personen und unter verschiedenen Umständen beibehalten werden. Sie ist also erst bei fortgeschrittenem Willensbildungsprozess möglich: So kann sich ein Kind zunächst resignierend an Gegebenheiten angepasst haben, um Konflikten auszuweichen und erst allmählich die eigenen Ansprüche als sinnvoll und berechtigt anerkennen.
  • Autonomie: Der Wille soll Ausdruck der individuellen, selbst initiierten Bestrebungen sein, quasi ein Baustein zur Selbstwerdung des Kindes, Bestätigung des Subjektseins und Beweis für Selbstüberzeugungen des Kindes. Das schließt nicht aus, dass Fremdeinflüsse an der Formierung des Willens beteiligt waren und dass zu den Selbstwirksamkeitsüberzeugungen auch Kontrollillusionen gehören.

Nach Dettenborn, der sich mit seinen Aussagen auf Erkenntnisse aus der kognitiven Entwicklungspsychologie stützt, haben Kinder unter normalen Bedingungen bereits mit drei bis vier Jahren die notwendigen Kompetenzen für die Willensbildung erworben. Demnach sind Kinder ab diesem Alter in der Lage „zu verstehen, dass sie selbst und andere Menschen Intentionen, Überzeugungen, Bedürfnisse, Hoffnungen, Ängste und dergleichen haben.“ Man könne nicht davon ausgehen, dass mit zunehmendem Alter die „Beachtlichkeit“ des Kindeswillen wächst. Es sei nicht so, dass der Wille jüngerer Kinder „störanfälliger“ wäre als der älterer Kinder oder Jugendlicher und er sei bei älteren auch nicht anerkennenswerter, weil der Wille besser verbalisiert oder vernünftiger begründet werden könnte.

Kindesinteresse

Auch ein Begriff, der Ihnen möglicherweise schon untergekommen ist. Als Kindesinteresse kann kurz und knapp der begründete Kindeswille genannt werden. Bekannt ist auch der Begriff der subjektiven Kinderperspektive.
In der Mediation sollte das Kindesinteresse mit der elterlichen Sorge abgeglichen werden. Zuvor jedoch sollte allen erwachsenen Beteiligten das eigentliche Kindesinteresse (Kindes-Position) klar und nachvollziehbar sein. Gegebenenfalls müssen die Eltern erst für die Kinderperspektive sensibilisiert werden. In der Folge sollte das Kind in der Mediation den Erwachsenen gleich behandelt werden. Das heißt, in der Interessenarbeit bekommt das Kind, bekommen die Kinder, ebenso viel Raum wie die erwachsenen Beteiligten. Die Selbstbehauptungsphase des Kindes ist nicht zu unterschätzen. In der Wechselbezüglichkeit wird dann häufig schnell klar (auch dem Kind), welche seiner Interessen mit denen der Erwachsenen per se nicht kompatibel sind und als Position aufgegeben werden müssen. Gleiches gilt natürlich für die Erwachsenen.

Zusammenfassung

Gut, das war jetzt viel. Nochmal zusammengefasst: Die Familie unterliegt einerseits gesellschaftlichen Einflüssen und beeinflusst andererseits als kleinster Teil der Gesellschaft deren Entwicklung. Die Befreiung der Familie von gesellschaftlichen Zwängen hat das Familiensystem instabiler gemacht, ihm aber gleichzeitig mehr gestalterische Freiräume beschert. Eine der wichtigen Funktionen einer Familie, die Erziehung der Kinder, wurde neben mehreren anderen weitgehend ausgelagert. Die Institutionen, an die ursprünglich familiäre Funktionen abgegeben wurden, können mangels eines allgemein geltenden Wertesystems die erforderlichen „basics“ nur schwer vermitteln. Besonders deutlich werden diese Defizite in Trennungssituationen, bzw. bei der Reorganisation von Familienstrukturen.
Die Einbeziehung der Kinder in die Reorganisation wird als notwendig erachtet. Nur so können die Eltern sinnvoll darin unterstützt werden, eine Sorge- und Umgangsrechtsregelung zu finden, die Verantwortlichkeiten und Zeiten regelt, die den Interessen der Kinder am besten gerecht wird.